Ein kleines Licht am 11. Juni

Gedenken an Alberto Adriano

Ich hatte keine Ahnung, worüber ich heute schreiben sollte. Also gucke ich im Internet unter Wikipedia.de. Auf der Startseite stehen immer auch Jahrestage und Jubiläen für das aktuelle Datum.

Heute steht da: „Alberto Adriano wird von drei alkoholisierten Neonazis im Dessauer Stadtpark zusammengeschlagen und stirbt drei Tage später an seinen schweren Verletzungen.

Bis dahin kannte ich den Namen Alberto Adriano nicht. Wenn ich schon mal von ihm gehört hatte, habe ich ihn vergessen.

Alberto Adriano war geboren im Jahr 1961 und stammte aus Mosambik. Er war 1988 als Vertragsarbeiter in die DDR geholt worden und lebte seither in Ostdeutschland. Er arbeitete als Fleischer und schickte seiner Familie in Mosambik von seinem Lohn regelmäßig einen Betrag als Unterstützung. Er war verheiratet und Vater von drei Kindern. Seine Kinder waren im Alter von fünf Monaten bis acht Jahren.

Gedenkstein im Dessauer Stadtpark für Alberto Adriano

Von M_H.DE – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=30937093

Vier Jahre lang hatte er Geld für einen Flug in seine alte Heimat gespart. Am 3. Juli 2000 sollte die Reise losgehen. In der Nacht vom 10. auf den 11. Juni wurde Alberto Adriano von drei betrunkenen Neonazis im Dessauer Stadtpark angegriffen und zusammengeschlagen. Am 14. Juni starb er an seinen Verletzungen.

Die drei Täter Enrico Hilprecht (24 Jahre), Christian Richter (16 Jahre) und Frank Miethbauer (16 Jahre) zeigten vor Gericht keinerlei Reue. Hilprecht wurde wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die beiden anderen wurden nach Jugendstrafrecht zu einer neunjährigen Haftstrafe verurteilt.

Während des Prozesses wurde bekannt, dass die drei jungen Männer vier Tage vor dem Mord bereits einen anderen Afrikaner verprügelt hatten.

Ich erinnere heute an Alberto Adriano, auch weil in diesen Tagen viel auf den Rassismus und die Gewalt gegenüber Afroamerikanern in der USA geschaut wird.

Bei aller Berechtigung und Notwendigkeit: Wir in Deutschland stehen dabei nicht über den Dingen. Wir haben eine eigene Geschichte von rassistischem Hass und rassistischer Gewalt, der wir uns hier bei uns stellen müssen. Wir wohnen in einem Land, in dem auch jetzt der Rassismus quicklebendig ist.

Die „Zeit“ und der „Tagesspiegel“ zählen zwischen 1990 und 2018 mindestens 169 Todesopfer durch rechte Gewalt. Bei der Hälfte der Fälle sei das Motiv Rassismus gewesen.

Ich finde, das sind schockierende Zahlen. Das sind viel zu viele ausgelöschte Menschenleben dafür, wie wenig das Thema in Deutschland ernst genommen wurde. Wie wenig in unserem Land entschlossen gegen rassistische und antisemitische Ansichten, Propaganda und Taten unternommen wird.

Aber auch dabei will ich weniger auf andere zeigen. Ich will auf mich selbst zu gucken: Wie sehr bin ich selbst eigentlich, wie sehr sind wir hier über jeden Zweifel erhaben? Betrachte ich als Weißer deutsche Bürgerinnen und Bürger mit dunkler Hautfarbe wirklich vollkommen als welche von uns? Oder sind es doch irgendwie die „Anderen“ oder die „Fremden“, die letztlich doch nicht dazu gehören? Wem würde ich eher eine Wohnung vermieten – der Familie mit heller oder der mit dunkler Hautfarbe? Neben wen würde ich mich am ehesten auf einen freien Platz in der Bahn setzen?

Ich lehne Rassismus, die Beurteilung von Menschen nach ihrer Herkunft oder ihrem Aussehen, wirklich von tiefsten Herzen ab. Doch ich fürchte, ich selbst bin selbst längst nicht frei von rassistischen Vorurteilen oder Ängsten. Obwohl mir diese Erkenntnis weh tut und peinlich ist, habe ich genug an mir selber zu arbeiten.

Sicher ist es gut, auch extreme oder weit entfernte Fälle von Rassismus anzuprangern und dagegen zu demonstrieren oder anderweitig seine Meinung zu zeigen. Aber der Mensch, den ich am leichtesten ändern kann, bin ich selber. An mir selbst kann ich beginnen, die Welt zu ändern.

Und trotzdem kommen wir meistens als erstes darauf, die Splitter in anderen Augen zu sehen. Den Balken im eigenen Auge aber übersehen wir gerne. Wir neigen dazu, andere anzuklagen und für die eine Bestrafung zu fordern. Aber wer ist selbst über jeden Zweifel erhaben und kann ruhigen Gewissens den ersten Stein werfen?

Ich will demütiger werden. Ich will ein kritisches Auge auf mich behalten.

Ich bin traurig, dass heute vor 20 Jahren ein Mensch so schwer verletzt wurde, dass der drei Tage später starb.

Alberto Adriano, ein Mensch, ein Ehemann. Einer, der seine Familie liebte und für sie sorgte. Der hier eine schwere Arbeit verrichtete, damit andere Fleisch und Wurst zu essen hatten. Einer, der lange gespart hat, um seine Lieben wiederzusehen.

Einer von uns.

Ich bin traurig, dass diese gemeine Tat nicht verhindert worden ist. Weil doch längst klar war, wozu die drei Täter in der Lage waren.

Ich bin traurig, weil die Nächstenliebe und die Zivilcourage von mir und von uns allen noch nicht stark genug ist. Weil sie noch noch nicht ausreicht, dass Menschen mit ausländischen Wurzeln sich bei uns vollkommen sicher fühlen dürfen.

Ich bin traurig und ich schäme mich. Alberto Adriano war einer von uns. Ich erinnere an ihn.

Das sechsundachtzigste kleine Licht.

Bleiben Sie gesund oder werden Sie gesund.

Ihr Pastor Jörg Prahler

Das “kleine Licht” erscheint jeden Abend auf der Startseite von Evangelisch-im-Wendland.de und auf der Homepage der Kirchengemeinden Damnatz, Langendorf und Quickborn. Sie können diese Andacht, diesen Impuls oder Gedanken gut in ein Abendgebet einbauen. In Damnatz, Langendorf und Quickborn läuten dazu jeden Abend, außer am Wochenende von 19.15 bis 19.20 Uhr die Glocken. Für das Abendgebet können Sie eine Kerze anzünden. Die Kerze können Sie danach um 19.30 Uhr auf ein Fensterbrett in Richtung Straße stellen. Das ist ein Zeichen der Hoffnung, dass sich zur Zeit ganz viele Menschen in Lüchow-Dannenberg gegenseitig geben.

Meine Oma hat aber gar kein Internet”? Aber du! Es ist ausdrücklich erlaubt, diese Beiträge auszudrucken, zu verschicken, zu teilen oder zu verlinken. Gebt sie gerne an alle weiter, die sich darüber freuen und vor allem an die, die sonst keine Zugang dazu hätten.

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