Ein kleines Licht am 8. Mai

Niederlage? Befreiung? Sieg?

Heute ist ein wichtiger Tag. Wegen der Corona-Epidemie geht er ein bisschen unter. Heute vor 75 Jahren ging in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende. Heute vor 75 Jahren hat die deutsche Wehrmacht kapituliert. Es wurde nicht mehr geschossen und es vielen keine Bomben mehr.

Soldatenfriedhof. Foto: Dirk Schelpe / pixelio.de

Aber was war das für ein Tag vor 75 Jahren? Ein Tag der Niederlage? Ein Tag der Befreiung? Oder sogar ein Tag des Sieges?

Fakt ist: Am 8. Mai 1945 war der mörderischste Krieg der Weltgeschichte für uns vorbei. An anderen Orten, vor allem in Asien und in Pazifik wurde noch ein paar Wochen weiter gekämpft. Bis die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki vielen. Das ist uns erspart geblieben.

In Deutschland ging der Krieg am 8. Mai zu Ende. Nicht, weil die Deutschen damals ein Einsehen gehabt hätten oder weil sie irgendeinen Tyrannen niedergeworfen hätten. Nicht, weil die Sehnsucht nach Frieden größer geworden wären als die Versprechungen des Krieges. Das Versprechen von Lebensraum im Osten oder von der Überlegenheit über andere Völker. Sondern weil alles in Schutt und Asche lag und weil jeder Widerstand gebrochen war.

Insofern ist dies ein Tag der Niederlage. Denn der Frieden wäre viel früher zu haben gewesen. Das deutsche Volk hatte sich dagegen entschieden. Es ist seinem Führer, dem ganzen nationalsozialistischen Staatsapparat treu gefolgt. Bis in den Untergang. Bis in die vollkommene Niederlage.

Einem Untergang, der die Städte und Dörfer in unserer Heimat in einem Ausmaß zerstört hat, wie sich das zuvor und später Geborene nicht einmal vorstellen können. Ein Untergang, der Millionen deutschen Soldaten und Zivilpersonen das Leben oder die körperliche wie seelische Gesundheit gekostet hat. Männern wie Frauen, Kindern wie Greisen. Millionen wurde entwurzelt und ihrer Heimat beraubt. Millionen haben all ihren Besitz verloren. Sahen das, was sie und Generationen vor ihnen aufgebaut haben, in Schutt und Asche.

Aber ein Untergang und ein millionenfaches Leid, das das deutsche Volk selbst heraufbeschworen und zu verantworten hat. Was es zuvor selbst in einem verbrecherischen Krieg gegen andere Völker und mit unaussprechlichen Gräueltaten in die ganze Welt hinausgetragen hat. Dazu hinter der Front Gräueltaten an Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, politischen Gegnern und an Menschen mit Behinderungen, Kriegsgefangenen und allen, die nicht in das Bild der deutschen „Herrenmenschen“ und „Herrenrasse“ zu passen schienen.

Insofern ein Tag der Niederlage. Aber einer Niederlage, die selbst verschuldet war und die die Menschheit insgesamt vor weit Böserem bewahrt hat.

Einen anderen Blick warf Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 auf dieses historische Datum. In seiner Rede im Bundestag nannte er das Kriegsende 1945 den Tag der Befreiung. Damit brach er mit der bisherigen Praxis, diesen Tag in Westdeutschland entweder mehr oder weniger zu ignorieren oder das Leid des deutschen Volkes und der Vertreibung in den Vordergrund zu rücken.

Von Weizsäcker stellte sich in seiner Rede auf die Seite der Siegermächte. Aber vor allem auf die Seite all jener Deutschen, die in den Konzentrationslagern oder Gefängnissen diesen Tag erlebt hatten oder die sonst wo von den Nazis in Deutschland verfolgt und unterdrückt worden waren. Diese Verfolgten des Naziregimes galten 1985 vielen immer noch als Verräter, Verbrecher oder Nestbeschmutzer und waren auch im Nachkriegsdeutschland bei etlichen schlecht angesehen.

Der Bundespräsident drehte den Spieß um und blickte auf die Chancen und Freiheiten, welche die Bundesrepublik nach 1945 gewonnen hatte und distanzierte sich von allen Halbherzigkeiten und Wehmütigkeiten, die sich in Westdeutschland immer noch weiter durchgeschleppt hatten. Er erklärte den 8. Mai 1945 zu einem guten Tag für das deutsche Volk, was ihm viel Anfeindungen aus der erzkonservativen, reaktionären und rechtsradikalen Ecke einbrachte.

Obwohl diese neue Sicht als Tag der Befreiung in der damaligen Zeit eine positive Wirkung und ihr gutes Recht hatte, gibt es seit einiger Zeit auch verstärkte Kritik an diesem Begriff.

Zum einen ist dies – 1985 wenig verwunderlich – eine rein westdeutsche Perspektive. Aus ostdeutscher Sicht und der Perspektive von vielen anderen osteuropäischen Völkern lässt sich wahrscheinlich nur eingeschränkt einem Tag der Befreiung sprechen.

Diese Staaten gerieten nach dem 8. Mai 1945 unter stalinistische Herrschaft. Sie konnten ihr Schicksal nicht selbst bestimmen und ihren Bürgerinnen und Bürgern blieben viele demokratische und Freiheitsrechte noch Jahrzehnte lang versagt. Und auch wenn ich die Verbrechen Hitlers und Stalins nicht vergleichen will, so war doch das Ergebnis der Befreiung im Osten zumindest keine Freiheit für alle und in jedem Maße.

Ein zweiter Kritikpunkt wird aktuell immer bedeutsamer: Nehmen die Deutschen den 8. Mai einfach nur gedankenlos als Tag der Befreiung an, dann vergessen sie das Entscheidende:

Die Deutschen waren ja nicht in erster Linie die Opfer der Unfreiheit. Sie waren diejenigen, die all die Unfreiheit erst geschaffen haben. Wir als Volk hatten die Verantwortung und wir hatten die Schuld. Und wir als Volk haben das Vermächtnis aus unserer Geschichte, den Ungeist des Nationalismus, Militarismus, Rassismus und Nationalsozialismus überall und jederzeit entschlossen zu bekämpfen. Wo der „Tag der Befreiung“ so verstanden wird, dass wir Deutschen uns bequem zurücklehnen können, da muss gegengesteuert werden.

Es waren eben nicht ein Diktator und eine kleine Schar von Getreuen, die all diese Verbrechen begangen haben. Es war eine starke Bewegung, begrüßt, ermutigt, gestützt, stillschweigend gefördert und willig getragen von großen Teilen des deutschen Volkes.

Aber was für ein Tag kann der 8. Mai 1945 denn dann gewesen sein? Diese Frage ist offen und muss immer wieder diskutiert werden. Es gibt kein Ende des Erinnerns, kein Ende des Gedenkens und kein Ende des Nachdenkens.

Für mich als 1966 geborener ist der 8. Mai ein Tag des Sieges über die Tyrannei, die Unmenschlichkeit, gegen den Krieg und die Gewalt. Es ist ein Tag des Sieges des Guten über das Böse, wobei das Böse damit nicht aus der Welt ist. Und das Gute in dieser Welt nicht ohne Schatten wäre.

Aber ich bin froh und dankbar, in einem Land und in einer Zeit zu leben, in der ich solche Zeilen schreiben darf, ohne um mein Leben zu fürchten. In der ich meinen Glauben leben und meine Freiheiten ausleben und genießen kann. Alles das ist kein Geschenk für die Ewigkeit und kein ewig gültiger Besitz. Es ist auch eine Aufgabe für diese Freiheiten und die Menschlichkeit einzutreten. Für die Würde aller Menschen, aller Hautfarben, jedes Geschlechts, jedes Glaubens und jedweder Herkunft.

Es ist nicht mehr und nicht weniger als die Befolgungen des einfachsten und höchsten christlichen Gebots „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Ein Gebot das übrigens lange zuvor bereits ein jüdisches Gebot war, von Gottes geliebtem Volk Israel.

Lieber euren Nächsten wie euch selbst“. Jederzeit und überall. Und kein Diktator, keine teuflische Ideologie hat je wieder eine Chance.

Das zweiundfünfzigste kleine Licht.

Bleiben Sie gesund oder werden Sie gesund.

Ihr Pastor Jörg Prahler

Das “kleine Licht” erscheint jeden Abend auf der Startseite von Evangelisch-im-Wendland.de und auf der Homepage der Kirchengemeinden Damnatz, Langendorf und Quickborn. Sie können diese Andacht, diesen Impuls oder Gedanken gut in ein Abendgebet einbauen. In Damnatz, Langendorf und Quickborn läuten dazu jeden Abend von 19.15 bis 19.20 Uhr die Glocken. Für das Abendgebet können Sie eine Kerze anzünden. Die Kerze können Sie danach um 19.30 Uhr auf ein Fensterbrett in Richtung Straße stellen. Das ist ein Zeichen der Hoffnung, dass sich zur Zeit ganz viele Menschen in Lüchow-Dannenberg gegenseitig geben.

Meine Oma hat aber gar kein Internet”? Aber du! Es ist ausdrücklich erlaubt, diese Beiträge auszudrucken, zu verschicken, zu teilen oder zu verlinken. Gebt sie gerne an alle weiter, die sich darüber freuen und vor allem an die, die sonst keine Zugang dazu hätten.

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