Ein kleines Licht am 7. Mai

von Heike Sieberns, Vikarin in Damnatz, Langendorf, Quickborn

Gottesdienst aus himmlischer Perspektive

„Was war das denn?“ Casimir hält sich schmerzverzerrt die linke Schulter. Sein suchender Blick geht zum Himmel. „Ist denn jetzt die Wolkendecke gerissen, oder was?“ Casimir wirft einen Blick über die Schulter und beäugt seine Flügel. „Kommt davon, wenn man sie nur in Notfällen nutzt.“ zischt er.

Casimir ist ein Engel vom göttlichen Hofstaat. Einer von vielen. Er sortiert täglich die sogenannten Stoßgebete. Da gibt es zum einen die lauten Seufzer: „Ach herrje!“ – die Kurzform von „Ach Herr Jesus“ – eigentlich ein klassischer Gebetsanfang, aber da kommt dann häufig nichts mehr. Die sortiert Casimir meistens in die Ablage „verwählt“. Kann ja mal passieren. Was auch sofort wegsortiert werden kann, ist das erstaunte „Harrijasses“. Das bleibt meist auch ohne Nachsatz stehen.

Daneben gibt es die kleinen und größeren Hilferufe: „Oooh Gott!“ oder „Himmel hilf!“. Wenn die reinkommen, wird sofort der Absender gesucht und die Gefahrenlage abgeschätzt. Entweder muss sofort Beistand geleistet werden und es geht direkt durch die Wolken auf den Boden. Oder die Lage ist ruhig und der nächste freie Kollege schaut nach, wo denn der Schuh drückt.

Und dann gibt es noch die lauten und wütenden Rufe: „Himmel Herr Gott, nochmal“. Auch hier wird sofort nach dem Ernst der Lage geschaut. Denn da könnte sich Ärger anbahnen.

Ein Stoßgebet von dieser wütenden Art hat Casimir wohl grad diese Bruchlandung beschert. Er steht zwischen einigen Tulpen in einem Blumenbeet. Hinter dem nächsten Busch steht ein Mann mit den Händen in der Hüfte auf einer Terrasse. Er scheint gerade vom Tisch aufgestanden zu sein, wo ein Laptop steht. „Das geht doch auch ein paar Wochen später, ohne dass der Himmel einstürzt.“ „Naja, Risse scheint er schon zu haben.“, flüstert Casimir. Der Mann murmelt noch einiges vor sich her, während Casimir klar wird, um was es hier eigentlich geht.

Seit einigen Wochen sind die Kirchen geschlossen. Auch andere Gebäude wurden schon länger nicht mehr betreten, aber mit denen hat Casimir nichts am Hut. Die Kirchen sind eine zuverlässige Quelle für die Arbeit der Engel. Mindestens an einem Tag in der Woche werden zwischen den dicken Mauern und bunten Fenstern Gebete losgeschickt. Die gesungenen mag Casimir besonders gerne. In den Liedern und Gebeten kommt viel zur Sprache: Bitte um Gottes Hilfe – für geflüchtete Menschen auf dem Mittelmeer, Angst vor dem nächsten Arztbesuch, Sorge um die Enkelkinder. Aber auch Freude über das letzte Familientreffen und Dank für den Haussegen, der wieder gerade hängt. Die Menschen schütten ihr Herz aus. Das war in den letzten Wochen nicht weniger als sonst. Tendenziell sogar mehr. Nur diesmal strömte es nicht aus den Kirchen raus.

Casimir kennt diesen Mann auf der Terrasse. Viel besser kennt er seine Stimme. Er gehört zu denen, die in der Kirche laut beten. Irgendwie scheinen diese Menschen sich darauf geeinigt zu haben, dass in den Kirchen eine Person besonders viel Redeanteil bekommt. Diese Person betet laut und nennt, was für einige andere auch wichtig ist.

Zum Glück ist das nicht alles was bei Casimir und seinen Kollegen ankommt. Da landet eine ganze Menge und häufig sehr unsortiert. Viele Sätze, die immer wieder neu beginnen. Sätze, die sich im Kreis drehen. Die nicht auf den Punkt kommen. Aber auch solche, ohne viel Gerede „Guter Gott, bitte lass den Tag morgen gut werden!“ Viel mehr braucht es auch nicht unbedingt. Die Engel und Gott wissen eh worum es geht.

Der Mann auf der Terrasse sitzt inzwischen wieder vor seinem Laptop und hält ein Telefon in der Hand. „Ich will niemanden nach Hause schicken. Die Kirche gehört allen! … Das wird doch auch nicht schön! Die Plätze in den Bänken werden abgeklebt. Es darf nicht gesungen werden. Und kommen werden nur die, die sich fit genug fühlen.“

„Wieso regt er sich denn so auf?“ Casimir versteht es nicht. Gottesdienst findet doch nicht allein in der Kirche statt. Und erst recht nicht nur am Sonntag. Gottesdienst ist immer. Nur manchmal eben in besonderer Form. Da gibt es einen Ablauf, der für alle gleich ist. Das macht es einfacher, wenn mehrere Menschen zusammen Gottesdienst feiern wollen. Aber Gottesdienst findet auch daneben statt. Dann, wenn Menschen mit dem Herzen aneinander denken. Wenn sie sich freuen, dass die Sonne scheint, das Essen schmeckt und alle gesund und munter ihren freien Samstag genießen.

„Für mich ist Kirche eine einladende Kirche ohne Gästeliste. Das Wort Gottes ist nicht allein für die Schönen und Reichen. Es ist für alle und besonders für die Schwachen.“

Hat er recht, denkt Casimir. Fragt sich, wer hier eigentlich schwach ist. Die, die nicht zur Kirche können? Oder die, die es nicht abwarten wollen, sonntags Gottesdienst in der Kirche zu feiern?

Der Sabbat ist für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.

Einige Menschen brauchen das wieder. Sie wollen in den Kirchbänken sitzen. Sie wollen die Orgel und die Predigt hören. Ohne Kirche ist kein richtiger Sonntag.
Für andere ist das nicht so wichtig, wo sie Gottesdienst feiern. Sie schauen vom Sofa den Gottesdienst im ZDF oder einen der vielen anderen im Internet. Manche zünden sich eine Kerze an und lesen eine kleine Andacht.

Casimir versteht die Aufregung immer noch nicht so ganz. Die Menschen suchen sich das raus, was ihnen gut tut. Aber der Mann auf der Terrasse tut ihm schon leid. Der scheint nur das Beste für die Menschen zu wollen und versucht niemanden aus dem Blick zu verlieren. Inzwischen hat der sich etwas beruhigt. „Dann werde ich zumindest für die beten, die dann nicht in der Kirche sitzen können.“ Gute Idee, denkt sich Casimir und schaut wieder in Richtung Himmel. Irgendwo da ist doch grad der Himmel aufgerissen. Das wird schon gut gehen am Sonntag. So oder so. Gottesdienst ist immer. Mit und ohne Kirchenbänke.

Das einundfünfzigste kleine Licht.

Bleiben Sie behütet!

Ihre Vikarin Heike Sieberns

Das “kleine Licht” erscheint jeden Abend auf der Startseite von Evangelisch-im-Wendland.de und auf der Homepage der Kirchengemeinden Damnatz, Langendorf und Quickborn. Sie können diese Andacht, diesen Impuls oder Gedanken gut in ein Abendgebet einbauen. In Damnatz, Langendorf und Quickborn läuten dazu jeden Abend von 19.15 bis 19.20 Uhr die Glocken. Für das Abendgebet können Sie eine Kerze anzünden. Die Kerze können Sie danach um 19.30 Uhr auf ein Fensterbrett in Richtung Straße stellen. Das ist ein Zeichen der Hoffnung, dass sich zur Zeit ganz viele Menschen in Lüchow-Dannenberg gegenseitig geben.

Meine Oma hat aber gar kein Internet”? Aber du! Es ist ausdrücklich erlaubt, diese Beiträge auszudrucken, zu verschicken, zu teilen oder zu verlinken. Gebt sie gerne an alle weiter, die sich darüber freuen und vor allem an die, die sonst keine Zugang dazu hätten.

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