Glauben und Leben in der Hauptstadt

Lüchow-Dannenberger Jugendliche holen Lebensmittelspenden für die Stadtmission im Hauptbahnhof ab.

Es ist Freitag Abend, 21.45 Uhr. Berlin Hauptbahnhof. Lisa, Catharina, Leara und Lea schieben einen 1,60 m hohen Lagerwagen in den Aufzug und fahren ins erste Untergeschoß. Ihr Ziel ist eine Filiale einer großen Berliner Bäckereikette. Die Mitarbeiterin dort greift sämtliche Reste aus den Regalen, die bis zur Schließung der Filiale am Abend nicht verkauft wurden. Brote, Brötchen, Brezeln, Teilchen, belegte Brötchenhälften landen in Kartons, und diese dann auf dem Wagen, der bereits halb voll ist. Weiter geht es ins Erdgeschoß im Bahnhof. Dort in der Foodmall wird die zweite Hälfte des Wagens bis oben hin gefüllt. Wieder Backwaren, dazu noch frischer eingelegter Fisch, belegte Sandwiches. Insgesamt alles Lebensmittel, die unseren Luxus und Überfluss aufzeigen. Bis zur letzten Minute soll alles für die Kunden vorrätig sein. Die Auswahl muß stimmen. Was nicht verkauft wird, wird am Abend weggeworfen.

Oder eben nicht. Die vier Jugendlichen aus Lüchow Dannenberg holen die Sachen als Lebensmittelspenden ab im Auftrage der Berliner Stadtmission, die in unmittebarer Nachbarschaft eine Notübernachtung und Essensausgabe im Rahmen der Kältehilfe für Obdachlose betreibt. Drei weitere Mitglieder unserer Evangelischen Jugend stehen zu der Zeit in der Küche und in der Essensausgabe und helfen mit. Bereits seit 19.00 Uhr sind sie da, eine Hälfte der insgesamt 16köpfigen Gruppe, die an diesem Wochenende am Praxisseminar „Menschen dienen in der Hauptstadt“ teilnehmen. Stadtmission, Kältehilfe, Heilsarmee, Besuch einer Moschee, Gottesdienst in einer frisch gegründeten Gemeinde, die sich in einem Kinosaal trifft, stehen auf dem Programm, dessen Highlight die Mitarbeit an diesem Abend ist. Nicht nur die Jugendlichen aus unserem Kirchenkreis und die ca. 15 ehrenamtlichen Mitarbeiter der Stadtmission sind schon da, sondern seit dem frühen Abend warten bereits ca. 40 Obdachlose vor dem Eingang darauf, daß um 21.00 Uhr geöffnet wird. Andere werden im Laufe des Abends vom „Kältemobil“ abgeholt, mit dem zwei Ehrenamtliche der Stadtmission durch die Stadt fahren, um (Er-)Frierende an unentdeckten Plätzen abzuholen.

Sie bekommen ein Dach über den Kopf, warmes Essen und Getränke, wenn sie wollen, ein Schlaflager in einem der Schlafhäuser und vor allem: Sie bekommen an diesem Abend einen kleinen Teil ihrer Würde zurück, die vielen von ihnen bereits seit Jahren abhanden gekommen ist. Sie finden nicht nur materielles vor, sie bekommen auch ein Lächeln, ein offenes Ohr, medizinische Versorgung und Beratung.

Steve, einer der Berliner Ehrenamtlichen, erzählt uns, wie er selber dazu gekommen ist: „Ich war selber vor drei Jahren Gast hier. Ich war obdachlos.“ In der Einrichtung hat er damals die Hilfe bekommen, die er gebraucht hat, um seinen Weg zu ändern. Jetzt hat er wieder eine feste Wohnung. Und eine Arbeit als Schichtleiter in einem großen Betrieb. Dass die Arbeit in der Einrichtung motiviert ist durch den christlichen Glauben, ist zu spüren. Vor der Eröffnung treffen sich die Mitarbeiter im Andachtsraum des Hauses, teilen einander mit, was ihnen auf dem Herzen liegt, besprechen den Plan für den Abend und beten für die Menschen, die heute kommen werden, die sie liebevoll „Gäste“ nennen – nicht „Penner“, „Assis“ oder „Obdachlose“.

Wir arbeiten an dem Abend bis 01.00 Uhr morgens mit. Manchen von uns gehen die Bilder der Ärmsten dieser Stadt nicht mehr aus dem Sinn und entlocken den Augen einige Tränen. Ein Gast geht nicht ins Schlafhaus. Er legt sich, wie manche andere auch, einfach in den Essensraum. Sein Stamm-Schlafplatz ist schon lange direkt unter dem großen Holzkreuz, das mitten im Raum an der Wand hängt. „Er liegt am liebsten unter dem Kreuz“ erzählt eine Mitarbeiterin. Auf dem Kreuz kleben Zettel mit Namen und Lebensdaten von Gästen, die im vergangenen Jahr auf der Straße oder anderswo gestorben sind. Manchmal brennt dort eine Kerze.

Nach unserem „Feierabend“ – die Mitarbeiter der Nachtschicht treffen ein – fahren wir nach Hause zu unserem Quartier. Dort treffen wir Jugendliche des anderen Teils unserer Gruppe, die am nächsten Abend in der Kältehilfe mitarbeiten werden. Sie hatten ihren „freien Abend“ damit verbracht, auf dem Potsdamer Platz Zaungäste zu sein bei den Promis, die an dem Abend vor dem roten Teppich aus ihren Luxuslimousinen aussteigen, um an der Bambi-Verleihung teilzunehmen. Einige Selfies mit Berühmtheiten sind entstanden.

An diesem Abend kommt beides für uns zusammen, was der Alltag in der Großstadt ist: Die reichsten und von allen bewunderten Menschen, die die Stadt zu bieten hat – und gleichzeitig die Ärmsten, denen alle Würde genommen wurde, und die ein kleines bisschen davon zurück erhalten haben. Unsere Jugendlichen sind beeindruckt von diesem Wochenende – und sie haben viel fürs Leben dazu gelernt.